Atmung

Ein Kennzeichen des Lebens ist Bewegung und Atmung, eine der essentiellsten und wohl subtilsten Bewegung des Menschen. Atmung bedeutet Lebendigkeit. Sie ist kein Zustand sondern ein Prozess, der den Rhythmus des Lebens mit seinen komplementären Kräften charakterisiert. Ausatmung ist gleichwertig wie Einatmung, Entspannung wie Anspannung, Aufnehmen wie Loslassen. Atmung ist ein mehrdimensionales Phänomen, mit einer physischen, psychischen, „energetischen“ und spirituellen Tragweite. Sie vermittelt zwischen Körper und Psyche, der inneren und äußeren Welt, dem Feinstofflichen und der Materie. Sie geschieht autonom und lässt sich doch in gewissem Maße bewusst steuern. Eben dieses Paradox zwischen passivem Geschehen und aktiver Ansteuerung ist von besonderer Bedeutsamkeit für Körperbewusstsein und Qualität des Trainings.

Unser Organismus braucht ständigen Nachschub an frischem Sauerstoff. Das ist die primäre Funktion der Atmung zum Zwecke der Energiegewinnung. Dabei steuert das Atemzentrum in unserem Gehirn die Atmung durch die Lungen – die sog. „äußere Atmung.“ Während der Atmung sorgen die winzigen Lungenbläschen dafür, dass der in der Atemluft enthaltene Sauerstoff ins Blut übergehen kann. Etwas Ähnliches geschieht bei der „inneren Atmung“ an der Grenze zwischen Körperzellen und Blut. Hierbei tritt der Sauerstoff vom Blut in die Zellen ein. Dabei wird in speziellen Funktionseinheiten der Zellen – den Mitochondrien – aus Kohlenhydraten und Fett unter Verbrauch von Sauerstoff die nötige Betriebsenergie für all unsere Körperfunktionen erzeugt. Die Mitochondrien nennt man daher auch „Kraftwerke der Zellen.“ Im Zuge der inneren Atmung entsteht Kohlendioxid, das bis zur Lunge transportiert wird und im Anschluss unseren Körper im Rahmen der äußeren Atmung wieder verlässt. Beim Ausatmen wird unser Körper von anfallenden Stoffwechselprodukten befreit, die nicht mehr benötigt werden. Je mehr wir leisten, desto mehr Sauerstoff braucht unser Körper. Dadurch hängt die Atmung eng mit dem Wohlbefinden und der Leistung unseres Körpers zusammen. Wir können unsere Atmung auch bewusst steuern, wenn wir unseren Körper gezielt bei seinen unterschiedlichen Tätigkeiten, wie z.B. dem Training unterstützen wollen.

Bei Belastung nimmt die Atemfrequenz wegen des erhöhten Sauerstoffbedarfs zu. Als Faustregel beim Bodybuilding gilt, dass bei der Anstrengung ausgeatmet wird und nach der Anstrengung eingeatmet wird. Damit wird die Kontraktion der Atemmuskulatur sinnvoll mit der Kontraktion der beanspruchten Muskulatur koordiniert. Der Trainingseffekt erhöht sich damit und die Übungen werden erleichtert. Beim Training mit schweren Gewichten macht diese Form der Atemtechnik zum Zwecke des Druckausgleiches am meisten Sinn.

An dieser Stelle wird schon deutlich wie sich allein durch die unterschiedlichen Atemtechniken bezüglich der Muskelkontraktion und des Kraftaufbaus das Training qualitativ verändern lässt. Aber die Atmung beeinflusst das Training noch in einem weit reichenderen aber weniger beachtetem Maße, nämlich über den Aspekt der Bewegung, welche sie beim Atemvorgang erzeugt. Um dies nachvollziehen zu können, ist es zunächst wichtig zu verstehen, was beim Vorgang der Atmung mit der Atemmuskulatur geschieht.

Motorisch betrachtet passiert folgendes: Beim Einatmen wird die Lunge von den Atemmuskeln auseinander gezogen und bei der Ausatmung wieder zusammengedrückt. Dies geschieht durch die Bewegung des Zwerchfells und dem Zusammenspiel anderer Muskeln, Organen und Knochen, die für die dreidimensionale Ausdehnung des Brustkorbs verantwortlich sind. Das Zwerchfell besteht aus einer Muskel-Sehnenplatte und ist der Hauptatemmuskel, und kein Fell, wie der Name suggeriert. Trotz, dass es flächenmäßig den größten Muskel darstellt, lässt sich seine Bewegung nur indirekt spüren in seiner Auswirkung auf die Rippen und Eingeweide. Das Zwerchfell trennt den Brustkorb vom Brustraum. Im Brustraum oberhalb des Zwerchfells, befinden sich Lunge und Herz, die durch den kleinen Blutkreislauf miteinander verbunden sind. Unterhalb des Zwerchfells, also im Bauchraum, liegen die übrigen Organe, sprich Magen, Leber, Bauchspeicheldrüse, Darm, Milz, Blase, Eierstöcke, Uterus. Bei der Einatmung zieht sich das Zwerchfell zusammen, wandert dabei ein Stück nach unten und schiebt damit die Baucheingeweide (Leber, Magen, Darm etc.) nach unten und vorn. Dadurch wölbt sich der Bauch beim Einatmen nach außen, vorausgesetzt die Bauchmuskeln sind locker und können sich entspannen. Daher ist von „Bauchatmung“ die Rede. Gleichzeitig spannen sich die externen Zwischenrippenmuskeln, die wie ihr Name sagt, zwischen den Rippen liegen, an, heben und weiten damit den Brustkorb aus. Durch diese Bewegung des Zwerchfells und der äußeren Zwischenrippenmuskeln entsteht in der Lunge ein Unterdruck wodurch Luft einströmt. Da das Zwerchfell um den unteren Rippenrand herum seinen Ursprung hat, zieht es die unteren Rippen etwas auseinander. Dadurch erweitert sich der Brustraum und der Raum des unteren Rückens noch ein wenig mehr. Dies ist gemeint, wenn man von einer „Flankenatmung“ spricht. Bei der Ausatmung entspannt sich der Zwerchfellmuskel, während die Bauchmuskeln und die internen Zwischenrippenmuskeln sich anspannen. Durch die Anspannung der Bauchmuskeln drückt es die Eingeweide wieder nach innen oben in das Zwerchfell hinein, das in entspannten Zustand eine Kuppel nach oben bildet. Dadurch wird die Lunge von unten zusammen gedrückt. Durch die internen Zwischenrippenmuskeln wird die Lunge auch von vorn, seitlich und hinten zusammen gedrückt und der Brustkorb senkt sich. Durch die Anspannung von Bauch- und internen Zwischenrippenmuskeln entsteht in der Lunge ein Überdruck und die Luft wird herausgedrückt. Beim Einatmen spannt sich also ein Teil der Atemmuskeln an und der andere entspannt sich. Beim Ausatmen wechseln die Rollen, die vorher entspannten Muskeln spannen sich an, die vorher angespannten Muskeln entspannen sich. Außer den eben erwähnten Muskeln spielen bei der Atmung noch ein Reihe anderer Rumpf-Muskeln eine Rolle, die sich ebenfalls abwechselnd kontrahieren und entspannen müssen. Daher ist bei gesunder Atmung der ganze Rumpf sichtbar in Bewegung. Die Atembewegung geht bis in den Beckenboden hinein.

Die Atmung geschieht für gewöhnlich unbewusst und automatisch, das heißt sie wird von Gehirnteilen gesteuert, die nicht unserer bewussten Kontrolle unterliegen. Sie ist Teil des autonomen Nervensystems, das auch als vegetatives Nervensystem bezeichnet wird. Nur indirekt können diese Prozesse beeinflusst werden. Die Zuständigkeit des vegetativen Nervensystems bezieht sich auf die Regulierung von Atmung, Augenmuskulatur, Herzschlag, Blutdruck, Verdauung, Stoffwechsel, Schweißabsonderung und Sexualorgane. Diese Steuerung wird bei intensiven Gefühlen, wie z.B. Angst oder Stress spürbar. Das vegetative Nervensystem setzt sich aus drei Teilen zusammen:

- Dem sympathischen Nervensystem, das verantwortlich ist für die Mobilisierung des Körpers in Stresssituationen, die als Bedrohung empfunden werden. Die Aktivierung des Sympathikus hat die Ausschüttung von Stresshormonen zur Folge in deren Konsequenz die Atem- und Herzfrequenz steigen, sich der Muskeltonus und der Blutdruck erhöhen, Energiereserven des Körpers frei gesetzt werden und die Sexual und Verdauungsorgane ihrer Funktion drosseln.

Dieser Mechanismus bringt den Organismus in Alarmbereitschaft um entsprechend mit Kampf oder Flucht zu reagieren (Fight or Fight)

- Das Parasympathische Nervensystem ist der entsprechende Antagonist. Er dämpft die Aktivität der nach außen gerichteten Funktionen, mobilisiert die Verdauung, sorgt für Ruhe und Erholung und ist somit besonders wichtig für Regeneration und den Aufbau körpereigener Reserven (rest and digest).

- Das enterisches Nervensystem besteht aus einem Nervengeflecht, das sich zwischen den Muskeln in der Darmwand befindet. Diese Nervenfasern arbeiten prinzipiell unabhängig von anderen Nerven, werden aber stark vom Parasympathikus und Sympathikus beeinflusst. Das enterische Nervensystem kümmert sich um die Verdauung: Es verstärkt beispielsweise die Peristaltik, sorgt dafür, dass in das Darmrohr mehr Flüssigkeit ausgeschieden wird, und erhöht die Durchblutung in der Darmwand.

Da die Atembewegung aber durch die normale Skelettmuskulatur erfolgt, kann sie wie jede andere Bewegung dieser Muskeln auch, bewusst gesteuert werden. Wir können gezielt tiefer oder schneller als auch nur in den Bauch oder den Brustkorb atmen. Dadurch lässt sich Einfluss nehmen auf das vegetative Nervensystem. Eine flache Brustatmung, sowie sie in Stresssituationen erfolgt, führt zur Aktivierung des Sympathikus und somit zur Anspannung des Körpers, wohingegen eine tiefe „Bauchatmung“ das parasympathische Nervensystem anregt und dadurch Entspannung fördert/bewirkt. Im Rahmen von An- und Entspannung wird die Rolle der Atmung im Wechselspiel des körperlichem Zustands und des psychischem Befindens eindrücklich deutlich. Durch bewusste Atmung lassen sich Spannungs- bzw. Emotionszustände selbst regulieren. Jede Emotion hat ihr eigenes Atemmuster bzw. je nach Atmung empfinden wir eine andere Emotion. Diese Reziprozität wird als Embodiment bezeichnet. Die Atmung stockt bei Schreck, wenn es spannend wir halten wir gespannt den Atem. Bei Entwarnung erfolgt ein erleichtertes Aufatmen und bei Bedauern das klassische Seufzen. Sie ist ein Gradmesser dafür, ob wir etwas in uns aufnehmen wollen bzw. annehmen können, wie z.B. ein Kritik oder ein Kompliment. Wir atmen schnell bei Erregung aller Art. Bei Wut beispielsweise ertönt das bekannte „Wutschnauben“ bei dem kräftige Atemzüge schnell aufeinander folgen. Der Rhythmus wir unregelmäßiger und die Atempause verkürzt sich. In zärtlichen Momenten neigen wir zu längeren und tieferen Atemzügen mit größeren Atempausen. Der Charakter der übrigen Bewegungen entspricht dabei demjenigen der Atembewegung, z.B. das Aufstampfen oder auf den Tisch hauen bei Wut, oder das langsame Streicheln bei Zärtlichkeit.

Ergo durch Atmung entsteht Bewegung auf körperlicher Ebene im Sinne von „motion“ (lat. Bewegung) und im Sinne einer Gemüts-Bewegung des Affektes „emotion“. Atmung und Bewegung sind also untrennbar miteinander verbunden. Die Bewegung der Atemmuskulatur beeinflusst folglich das umliegende Bindegewebe, die Faszien. Faszientraining ist gerade in aller Munde und vor daher drängt sich die Frage auf, auf welchen Wegen sich Faszien effektiv beeinflussen lassen, um sie in ihrer komplexen Funktionalität optimal zu stärken/unterstützen. Denn das Fasziengewebe befindet sich überall im Körper und entscheidet auch in nahezu allen Bereichen über unsere Gesundheit. Sind die Faszien verklebt oder verhärtet, kann dies zu den unterschiedlichsten Beschwerden führen – von Gelenkschmerzen über Nacken-, Schulter-, Rücken- oder Bauchschmerzen bis hin zu undefinierbaren Schmerzen.

 

"Du machst BODYART Training oder DEEPWORK Training, bei dem du dich nicht auf die Kontrolle der Muskeln, sondern auf die Atmung konzentrierst. Du versuchst, jede Übung durch die Atmung zu kontrollieren. Beim Einatmen achtest du zum Beispiel auf die Länge und Aufrichtung des Körpers, beim Ausatmen löst du die Spannung. Es geht darum zu spüren, wo ich hineingehen kann, was sich in mir oder meinem Körper mit jedem Atemzug bewegt. An dem Punkt, an dem du bewusste Atmung und Kontrolle integrierst, arbeitet der Sympathikus nicht mehr, sondern der Parasympathikus wird über den Vagusnerv aktiviert. Das verändert die Wahrnehmung und die Rückmeldung vom Körper an das Gehirn, das sogenannte "Embodiment"-Prinzip. Der Körper nimmt das Ganze als Regeneration wahr, weil es sich um eine Bewegung und nicht um eine sportliche Freizeitaktivität handelt. Atmung und Bewegung sind also untrennbar miteinander verbunden."

 

Es gibt keine Entspannung ohne Anspannung